Der Text ist für die "Schreibwerkstatt" entstanden. Ein Bildungsurlaub hat uns zusammengeführt. Die Leidenschaft für das Schreiben verbindet uns seit Jahren. 

Thema: "Stufen" von Hermann Hesse. Was geht Euch beim Lesen der Zeilen durch den Kopf?

Rolltreppe abwärts

Silvester. Ich sitze in einem Café. Der Kalender für das anstehende Jahr liegt jungfräulich vor mir. Ein teures Exemplar mit vorgedruckten Seiten. Er bietet Platz für besondere Gedanken und gute Vorsätze. Für das richtige Mindset, wie man heute so sagt, und für all das, was ich verändern möchte. 

„Bereit zum Abschied sein und Neubeginne.“ Ich bin sowas von bereit. Es gibt viele Dinge, von denen ich mich mit Begeisterung verabschieden möchte. Da sind ein paar Kilos zu viel auf den Hüften, ein paar Kartons zu viel im Keller, ein paar Menschen zu viel, die mein Leben anstrengender machen, als es sein müsste, und ein paar Macken zu viel, die mich sogar selbst nerven.

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ Absolut. Diese vielen leeren Seiten. Es könnten wunderbare Dinge geschehen. Ich könnte der Liebe meines Lebens im Supermarkt begegnen. Der Lottogewinn ist längst überfällig. Vielleicht entdecke ich ein neues Talent und mein erstes Gemälde schafft es in ein Museum. Ganz zauberhafte Gedanken, wenn man denn ein Optimist ist, oder dem Leben eine Chance gibt.

„Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten.“ Aber wenn es doch gerade heiter ist, sollte man dann nicht die Zeit genießen? Dann kann man sich doch in seiner Komfortzone einrichten. Da ist es kuschelig und sicher. Wer will denn dann noch das Kalenderblatt abreißen? Wer weiß, welche schrecklichen Momente die Zukunft mit sich bringt. War früher nicht alles besser? Die Zeiten werden doch immer unsicherer. Die Menschen immer schwieriger. Im Umgang miteinander und im Dialog mit sich selbst. Und vielleicht ist es gerade die künstliche Intelligenz, die uns das Leben erleichtern soll, die es uns eines Tages zur Hölle macht.

„Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde, uns neuen Räumen jung entgegen senden.“ Das doch bitte nicht! Der alte Baum will doch nicht noch verpflanzt werden. Den Heimplatz wechseln, weil der Träger in die Insolvenz geht? Es reicht doch schon völlig, wenn der Pflegeroboter ein Update bekommt. Wenn ich alt und krank bin, will ich keine neuen Räume mehr betreten. Ich möchte, dass jemand in meiner gewohnten Umgebung an meinem Bett sitzt und meine Hand hält. Vielleicht wäre es schön, wenn jemand bei mir ist, der mir verspricht, dass der Tod nicht schlimm wird und mich auf der anderen Seite ein wundervolles Szenarium erwartet. Auf einen solchen, neuen Raum könnte ich mich vielleicht noch einlassen.

„Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“ Das konnte ich noch nie sonderlich gut. Abschied macht das Herz schwer. Eigentlich mag ich auch keine Veränderungen. Mein Hier und Jetzt hat ein gewisses Maß an Sicherheit. Das ist doch auch schön. Vielleicht ist es gar nicht an der Zeit, dass ich etwas verändern muss. So ein Jahreswechsel ist doch von Menschen ausgedacht. Es ist nur ein Datum. Mir geht es doch gut, so wie es ist. Ein Abschied? Von Angewohnheiten, Dingen, Menschen. Damit soll das Herz gesunden? Das macht doch nur Stress. Und der ist doch bekanntlich nicht gut fürs Herz.

Ich lege den Füller aus der Hand. Der Hesse hat doch keine Ahnung und sein Gedicht schafft es auf keinen Fall auf die erste Seite meines Kalenders. 
„Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.“ Gerade noch rechtzeitig ist die Weisheit erblüht. Die Erkenntnis, dass alles zu seiner Zeit kommen muss. Und heute ist eindeutig nicht der Tag, um neue Stufen zu erklimmen. 
Ich nehm' also nicht die Treppe in den zweiten Stock, wo ich mich für einen Malkurs anmelden wollte. Heute nehm´ ich die Rolltreppe ins Erdgeschoss, werfe den Kalender mit den vorgedruckten Seiten in die Mülltonne und gehe nach Hause, wo alles ist, wie es war.

-Ende-

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