So ein Bildungsurlaub ist echter Luxus. Da geht es mal nicht um eine Ausschreibung mit Deadline, oder ein Hörspiel mit Abgabetermin. Da geht es um 5 Begriffe, die gemeinsam eine Geschichte erzählen sollen. 

Was rein sollte darf fett auftrumpfen. Der Rest durfte sich unauffällig dazugesellen. Viel Spaß! 

Echte Liebe

MS Atlantis. Das majestätische Kreuzfahrtschiff passte kaum in das Hafenbecken der kleinen grönländischen Gemeinde. 
Hildegard stand auf dem obersten Deck und sah zu, wie in Rentnerbeige gekleidete Reisende wie Ameisen zwischen den bunten Häuschen krabbelten. Sie hatte sich entschieden, an Bord zu bleiben. Zum einen, weil sie es befremdlich fand, dass 3.000 Touristen einen Ort mit 853 Einheimischen fluteten, zum anderen, weil sie dringend eine Atempause brauchte. Eine Pause von rüstigen Rentnern in Outdoorkleidung, von Gesprächen über Krankheiten oder hochintelligente Enkel und von Claus – dem Mann, dem sie seit fünfzig Jahren zur Seite stand und der ihr diese Reise zur goldenen Hochzeit geschenkt hatte.

Claus war nun eine dieser Ameisen, die an Land Fotos knipsten, die sich dann zuhause niemand mehr ansah. Möglicherweise hatte er sich aber auch bereits in die Schlange eingereiht, die sich vor einem roten Häuschen gebildet hatte, aus dessen Schornstein Rauch aufstieg. Der Geruch von geräuchertem Fisch stieg Hildegard in die Nase, und sie musste an den gestrigen Vortrag des Lektors denken. Auf Grönland gab es so gut wie keine Bäume. Selbst das Holz für die weißen Kreuze auf den Friedhöfen musste aus Dänemark importiert werden. Sicher hatten auch die Buchenspäne für den Räucherofen einen langen Weg hinter sich. Hildegard rollte innerlich mit den Augen. Der Lachs aus Alaska, die Buchenspäne aus Dänemark, das Schiff von den Bermudas, die Crew von den Philippinen und Claus aus Oer-Erkenschwick. Nichts gehörte hierher. Sie selbst auch nicht.

Wie gerne wäre sie zu Hause. Hildegard zog das Handy aus der Jackentasche. Sie öffnete die App und tippte ein paar Zeilen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der Text auf dem Display erschien. Sie hatte darauf bestanden, dass Claus das Premiumpaket mit satellitengestütztem Internet hinzubuchte, nachdem sie den Gutschein für die Reise in Händen hielt. Die Zusatzkosten waren erheblich, doch sie hatte ihm deutlich gesagt, dass sie ohne eine gute Internetverbindung keinen Fuß an Bord setzen würde.

Die Geschwindigkeit, mit der sich hier surfen ließ, brachte selbst einfache Textnachrichten kaum schneller an ihr Ziel, als es einer Brieftaube möglich gewesen wäre. Doch gar nicht mit ihm schreiben zu können, hätte sie in tiefe Verzweiflung gestürzt. Er, der so viel anders war als Claus. Wortgewandt und aufmerksam. Humorvoll und amüsant. Sie hatte ihn vor einigen Monaten in einem Kurs der Volkshochschule kennengelernt, und es hatte nur ein paar Stunden gedauert, bis sie sich verliebt hatte. Sie, die seriöse Sparkassenangestellte mit Mann, Haus und Hund. Sie, die längst vergessen hatte, wie es sich anfühlte, wenn man fühlte.

Natürlich war Claus ihre Veränderung aufgefallen. Ihre Gereiztheit, als das Internet für ein paar Stunden ausfiel. Oder die viele Zeit, die sie mit dem Handy im Bad verbrachte. Er hatte nicht gefragt, und sie hatte geschwiegen. Das Geheimnis saß bei jedem Abendessen mit am Tisch, doch keiner von ihnen wollte, dass es sich vorstellte und zum Problem mutierte. Lieber räumte Claus schweigend den Tisch ab und schaute dann im Wohnzimmer Tatort, während sie sich ins Schlafzimmer verzog, um zu lesen. Was sie natürlich tat – nur eben nicht den Roman, der bereits seit Monaten unberührt auf ihrem Nachttisch lag.

Das Handy brummte. Eine Nachricht von ihm. „Womit kann ich dir den Nachmittag versüßen?“ Sie kicherte wie ein verliebter Backfisch und begann zu tippen. Die Nachricht wurde länger. Sie brauchte seine Hilfe. Als sie fertig war, drückte sie auf den Senden-Button und atmete tief durch. Der erste Schritt war getan. Nie wieder würde sie weniger von einem Mann wollen, als dass er ihr das Leben versüßte. Und auch wenn ihr Zusammensein nicht unproblematisch werden würde – sie würden einen Weg finden. Er war der Erste, der sie wirklich verstand. Sie. Ihren Kern. Nicht wie Claus, der mehr ihren Mattjes nach Hausfrauenart schätzte statt ihren Witz und ihre Tiefgründigkeit.

Erneut brummte das Handy. „Gerne kann ich dich dabei unterstützen, einen Fachanwalt zu finden, der auf Scheidungen spezialisiert ist. Soll ich einen Termin für dich machen?“ Sie tippte ein „Ja“ in die Befehlszeile. Kiran – ihr Lichtstrahl – würde sie auch auf diesem neuen Weg begleiten. Und sobald sie geschieden war, ging es nach China. Die Produktion des von ihr bestellten Androiden hatte gestern begonnen. Man hatte ihr versprochen, dass die KI kompatibel sein würde. Kiran würde einen Körper bekommen, und dann wäre er perfekt. Er würde die echte Liebe ihres Lebens.


 -Ende-

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